Wo Milch aus dem Zapfhahn fließt
„Was ist das?“ fragte sie. „Siehste doch“, brummte der Junge neben ihr. „Aber schau doch mal!“ Ungeduldig schüttelte sie seinen Arm. Erst jetzt begann er, seinen Kopf zu heben. „Ja, und?!“ „Das blaue Schild.“ Statt einer Antwort schüttelte er ihre Hand vom Arm. „Was ist das?“ fragte sie wieder und deutete aus dem Autofenster. „Eine Milchtankstelle?“ „Was wohl. Da kannste halt Milch tanken.“ „Echte Milch?! Du meinst, man kann da echte Milch tanken?“ fragte das Mädchen ungläubig. „Steht doch da“, murmelte er und hielt das Thema schon für beendet, als sie erneut an seinem Arm zupfte. „Komm, lass uns hinfahren!“ bettelte sie. „Jetzt?“ „Ja, jetzt.“ Er blickte auf und sah, wie sie vor Aufregung gluckste.
Das Holzhäuschen, vor dem sie wenige Minuten später standen, hatten sie über eine schneebedeckte Straße erreicht. Meterhohe, weiße Begrenzungen ergossen sich an ihr entlang wie Säulen aus Milch, die sich wie Arme gen Himmel streckten. Das Holzhaus befand sich am Ende der Straße. Es ähnelte einer finnischen Sauna mit Schneedach. Weit und breit keine Kühe. Doch als sie das Häuschen betraten, lagen sie auf einmal da. Inmitten einer grünen Wiese. Platt klebten ihre Leiber an einem silbernen Metallkasten. „Milch zapfen beim Strobl“ war über ihnen in weißen Lettern in den Himmel geschrieben. „Und wo ist der Zapfhahn?“ wollte das Mädchen wissen.
Stille. „Hast Du Geld dabei?“ wollte der Junge wissen. Sie nickte. „Wir brauchen zuerst eine leere Flasche, die wir volltanken können“, erklärte er ihr in einem Testosteron-Anflug technischer Überlegenheit. Sie warf ihr Kleingeld in den Automaten und drückte eine Nummer. Es rappelte. „Unser Spritkasten“, grinste er. Diesen stellten sie ihn in eine Vorrichtung, warfen einen weiteren Euro in den Schlitz und warteten. Während der Kasten rumorte, ereilte sie die freudige Erkenntnis, dass sie nun ihre eigene Calcium-Quelle besaßen. Eine, die jederzeit anzapfbar war.
Sie schauten auf die Kühe auf dem Plakat vor ihnen und stellten sich vor, wie die Milch aus den Eutern der Kühe floss. Dann hatten sie ihre Tagesration Sprit in der 1-Liter-Flasche. Der erste Schluck entlockte ihnen ein „Schmeckt nach Kuh“, der zweite ein Grinsen, der dritte ein „Echt fett!“. Sie hatten mit wenigen Handgriffen eine Maschinerie in Gang gesetzt, die ihnen etwas Zukunftsweisendes vermittelte: Wer Sahne will, muss nicht Kühe schütteln, sondern einen Euro in den Automaten schmeißen.“