Auf der Walz – Einer von 500
Der Wagen schnitt ihm an einem sonnigen Wintertag gegen 11.20 Uhr den Weg ab. Ein Mann – er schätzte ihn auf Mitte 50 – ließ das Fenster seines roten Mercedes herunter und beugte sich über den Beifahrersitz: „Hast Du Zeit?“
Obwohl er es gewohnt war, auf der Straße angesprochen zu werden, überraschte ihn die Frage. „Was?“
Er schluckte: „ Äh, ich hab`s zumindest nicht eilig.“
„Dann steig ein!“
Froh, aus der Kälte heraus ins Warme steigen zu können, kam er der Aufforderung nach. Es hatten ihn schon viele Menschen mitgenommen, aber der hier schien speziell zu sein. Er habe ihn laufen sehen und sei extra noch einmal umgekehrt, beginnt der Fremde unvermittelt das Gespräch. „Fuck“, schießt es ihm in den Kopf. Dann hört er den Motor aufheulen.
Wortlos steuert der Mann seinen Wagen Richtung Innenstadt. Südtirol. Er hatte doch vor, nach Südtirol weiterzuziehen. Jetzt fuhr der Fremde ihn wieder dahin, wo er hergekommen war. Er muss schlucken. Einen Moment lang glaubt er, durch tieferes Einatmen mehr Luft zu bekommen, doch er irrt.
Sein Herz scheint komplett aus dem Rhythmus geraten zu sein. Es ist fast so, als hätte es einen imaginären Dirigenten, den die Luftzufuhr besoffen macht. Und je mehr Sauerstoff es bekommt, desto wilder sein Takt, und desto höher die Anzahl der Schläge, die wiederum auf seine Kehle donnern und sie anschwellen lassen.
Vielleicht war es die Bestimmtheit, mit der der Fremde ihn abgefangen hatte, vielleicht war es aber auch nur sein Herz, das seinen Körper nicht zur Ruhe kommen ließ, jedenfalls war ihm schlecht, als sie bei der Baustelle eintrafen.
Alles Gold, was am Ohr glänzt
Dabei war er einiges gewohnt. Bevor er losgegangen war, hatte man ihm mit dem Hammer einen Nagel ins Ohrläppchen gesclagen. Der Ohrring, den man ihm anschließend in das blutende Loch steckte, sollte für ihn so etwas wie eine baumelnde Miniatur-Versicherung sein.
Ein goldenes Schmuckstück, das ihm vielleicht den Arsch rettete, sollte er einmal Schulden begleichen oder – noch schlimmer – seine eigene Beerdigung finanzieren müssen. Wobei, wenn er genauer darüber nachdachte, auch die zweite Variante in irgendeiner Form seinem Hinterteil zugute käme.
Den Arsch retten. Dass er nicht lachte. In dieser Situation nützte ihm der Ohrring herzlich wenig. Der Typ aus dem Wagen würde sich wohl kaum mit dem goldenen Teil im Ohr abspeisen lassen. Das sagte ihm sein Instinkt. Er hatte schon öfter für Privatleute gearbeitet, aber der hier, der war anders.
Grundsätzlich gefiel ihm sein Leben auf Wanderschaft. Einfach aufbrechen, ohne Ziel, selbst entscheiden können, was man tun und lassen will – das liebte er, dafür setzte er seine Arbeitskraft ein. Mit Erfolg. Seine zwei Hände hatten ihn schon zweieinhalb Jahre in den unterschiedlichsten Ländern überleben lassen. Egal, ob in Rumänien, Tschechien, Österreich, Dänemark, Frankreich, Norwegen, Australien oder Neuseeland. Und jetzt? Jetzt war er sich nicht mehr so sicher.
Aus dem Augenwinkel beobachtet er, wie ihn der Mann aus dem Wagen mustert. Ob er Lust habe, für ihn zu arbeiten, erkundigt sich dieser mit freundlicher Stimme. Inzwischen hatten sie in einer Seitenstraße geparkt und standen jetzt direkt vor der Eingangstür eines Hauses, in dessen Außenwand ein beleuchteter Engel eingemeißelt war.
Er nickt erleichtert. Dann betreten sie das Haus, das in den kommenden Wochen sein neues Zuhause sein wird. Ein Haus, in dem er werkeln darf. Für eine warme Mahlzeit am Tag, ein Leihauto, einen Wohnungsschlüssel und ein Dach über dem Kopf.
Der Mann hinter der Geschichte
Mit Stock und Hut steht er da. Wer noch die Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“ aus den 70er Jahren kennt, dem fällt unweigerlich der britische Agent John Steed alias Patrick Macnee ein, der mit Kollegin Emma Peel Verbrecher jagte. Unaufgeregt, galant, gepflegt. Immer gewürzt mit einer Prise englischem Humor.
Nur – Nils ist kein Agent. Nils ist Schreiner. Einer, der gerade auf der Walz ist, und die Welt eben nicht vor den diabolischen Plänen exzentrischer Genies rettet, sondern seine Teufelshände dazu nutzt, der Welt etwas Handfestes zu liefern: Schreinerarbeiten. Vorausgesetzt, er bekommt dafür etwas Lohn und Brot.
Wenn John Steed seinen Regenschirm schwungvoll durch die Finger gleiten ließ, dann schwang beim Zuschauer im gleichen Moment der Drang mit, genauso cool und lässig durchs Leben zu gehen. Bei Nils kommt dasselbe Gefühl auf. Sein Stenz, den er sich aus einem Stück Schlingholz geschnitzt hat, macht aus ihm einen saloppen John Steed Spaziergänger, nur ohne Emma Peel, quatsch – ohne Gruftappeal. Er hat ihn eben, weil es Tradition ist, ihn zu haben. Nicht, weil er sich abstützen müsste. Betritt man mit ihm einen Raum, könnte man fast meinen, die Menschen verneigen sich vor ihm.
Dann ist die Luft auf einmal gefüllt mit dieser Ehrfurcht vor dem Fremden und dessen Lebenserfahrung, angereichert mit der Energie eines halben Jahrhunderts, so scheint es. Und auf einmal riecht man ihn auch – den Duft der großen weiten Welt. Es ist wie mit einem Welpen, den man Gassi führt. Nie mangelt es an Gesprächsstoff, noch weniger an Ahhs und Ooohs. Der einzige Unterschied: Nils in der Lage ist, ohne Knurren eine Konversation zu führen.
Führt man Nils in ein Konzert aus und hat noch ein paar Minuten Zeit, dann überrascht es nicht, dass er sofort in ein Gespräch verwickelt wird. Überrascht ist man vielmehr darüber, mit welcher Ruhe er seine Schlagfertigkeit präsentiert, und dass sein Gesprächspartner der Künstler des Abends ist. Als dieser eine Entschuldigung für den viel zu kleinen Zuschauerraum und die fehlende Bühne ausspricht, entgegnet Nils: „Wieviel Zeit haben wir denn?“ Um gleich darauf lächelnd fortzufahren: „Ich könnte schnell eine bauen.“
Das ist es, was er anzubieten hat: Seine Arbeitskraft. Zusammen mit dem Hammer, dem Stecheisen, dem Meterstab, der Säge und dem Bleistift, die manchmal in der Westentasche seiner Handwerkerkluft stecken, meistens aber in seinem Rucksack verstaut sind. Obwohl Nils schon zweieinhalb Jahre unterwegs ist, sieht man ihm die Strapazen der Reise nicht an. Denn trotz seiner dünnen Beine, die unter seinen weit ausgestellten Hosenbeinen fast nicht mehr als solche auszumachen sind, wirkt er weder ausgemergelt noch skorbutverdächtig.
Mit 28 Jahren entschloss er sich, für genau drei Jahre und einen Tag sein Zuhause zu verlassen. Seine Wanderjahre sind Lehrjahre. Er soll Erfahrungen sammeln, neue Arbeitsweisen, andere Regionen und Orte kennenlernen. Das einzige, was er auf seine Reise mitnehmen durfte, sind seine Kluft, eine Arbeitszunfthose, vier Hemden, vier Unterhosen, Socken, einen Schlafsack und – seinen Mut. Ein Handy ist tabu. Heimweh kennt er nicht. Er wandert unter der Obhut des Sternenhimmels, den sein Opa ihm bei zahlreichen Wanderungen erklärte. Heimweh hat er nur nach Erbsensuppe.
Allen, denen er begegnet, bleibt die Erinnerung an ihn und seine Fähigkeit, aus Nichts etwas zu bauen sowie in Windeseile und ohne Scheu Kontakte zu knüpfen. Doch genauso leicht wie der Wind vorüberzieht, verwehen auch seine Spuren. Was bleibt, ist ein Krauter, ein Arbeitgeber, der ihm für kurze Zeit sein Vertrauen lieh und dem auch er vertrauen musste, um zu überleben.