Sonntag, November 24, 2024

Gestatten, Roselin, Asylantin

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Gestatten, Roselin, Asylantin

Kinderstimmen kreischen mir entgegen, als ich das Kasernengelände betrete. Zwei schwarze Mädchen und ein Junge im Alter von zwei bis vier Jahren begrüßen mich freudestrahlend. Ich versuche es auf englisch: „Where`s your mom?“ Sofort ergreift die Älteste meine Hand und führt mich durch einen langen, schmalen Flur, der rechts und links numerierte Türen hat. Vor Nummer 116 bleiben wir stehen. Ungeniert öffnet die Kleine die Tür. Eine junge Frau in knallig grüner Jogginghose und grauem Top schreckt unter der Bettdecke hervor. „Sorry“, ist meine spontane Reaktion und ich weiche einen Schritt zurück. Doch Roselin, wie ich gleich erfahren werde, springt auf und zieht mich interessiert ins Zimmer. Besuch ist wohl selten, aber auf jeden Fall willkommen, stelle ich fest. Große braune Augen schauen mich erwartungsvoll an. „I´m interested in your story“, erkläre ich mein Auftauchen. Vielleicht etwas dreist, aber wirkungsvoll. Roselin stellt keine Fragen. Und nichts in Frage. Ihr Vertrauen macht mir für einen kurzen Moment meine Verantwortung ihr gegenüber bewusst.

Im Gespräch erfahre ich, dass Roselin im Februar 2015 aus Nigeria geflüchtet ist. Aus Angst vor ihrem Vater, der als Ritualmörder menschliche Körperteile sammelte. Eine in Nigeria gängige Praxis. Man glaubt, dass Zaubertränke mit Menschenköpfen, Brüsten, Zungen und Augen Geld und Reichtum bringen, und dass übernatürliche Wesen existieren, die durch rituelle Handlungen und Opfer besänftigt beziehungsweise beeinflusst werden. Inzwischen ist Roselins Vater tot. Kontakt hat sie nur noch zu ihrer Mutter. Der Vater ihrer Tochter hat sich noch während der Schwangerschaft verabschiedet. Seit einem Monat ist sie hier in der Kaserne untergebracht. Auf meine Frage, ob sie sich hier wohl fühlt, lächelt sie.

Roselins Tochter stürmt mit den beiden anderen Kindern ins Zimmer. Alle drei versammeln sich um mich, lachen und deuten mit den Fingern auf Gegenstände, die sie benennen. „Blu-me“, höre ich bei Roselins Tochter heraus und gebe ihr durch Kopfnicken zu verstehen, dass ich verstanden habe. Sofort bringt sie mir ein Bilderbuch und zeigt auf eine. Dann fängt sie an zu singen. Roselin nimmt ihre Tochter, um sie aus dem Zimmer zu katapultieren und erntet ein Riesengeschrei. Ich winke ab und nehme das kleine dunkelhaarige Mädchen mit den vielen kleinen geflochtenen Zöpfen, die als Pferdeschwanz oben auf dem Kopf enden, samt Bilderbuch auf den Schoß. Während Roselin mit ihrer Tochter spricht, schaue ich mich im Zimmer um. Das Doppelbett füllt fast den gesamten Wohnraum aus, der Fernseher steht auf dem Kühlschrank und ein Terminkalender ziert eine Wandseite. Der Tisch, an dem wir uns unterhalten, erinnert an einen klappbaren Campingtisch.

„Gehst du hier zur Schule?“, frage ich das Mädchen auf englisch. „Sie geht bald zur Musikschule“, antwortet mir Roselin und tippt mit ihren rot, grün und lila bemalten Fingernägeln auf und ab. „Habt ihr Kontakt zu den anderen Familien hier?“, frage ich weiter. Roselin scheint erstaunt: „No.“ Ich hake nach. „Kein Austausch untereinander, keine gemeinsamen Abende, kein geselliges Beisammensein?!“ Roselin schüttelt den Kopf. „Und was macht ihr dann den ganzen Tag?“, frage ich sichtlich überrascht. „Im Zimmer bleiben und deutsch lernen“, erklärt sie mir und macht bei dieser Aussage nicht den Eindruck, als würde es ihr etwas ausmachen. „Ein- bis zweimal pro Woche schaut jemand aus Lenggries vorbei“, fügt sie hinzu. „Willst du in Deutschland bleiben?“, erkundige ich mich. „Ja“, ist ihre spontane Antwort, „ich werde mir einen Job suchen. I`m a hairdresser.“ Ich nicke.

Bei der Verabschiedung habe ich keine Story in der Hand, sondern fünf kleine Finger, die mich zum Ausgang begleiten. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit beherbergten die Räume der Kaserne Soldaten, die für den nächsten Einsatz abrufbereit waren. Nun sind sie Zuflucht für Menschen, die auf ihren eigenen Einsatz warten. Isoliert und nur mit Aufenthaltsgestattung bewaffnet, aber mindestens genauso aufbruchsbereit für ein anderes Leben.

(… Fortsetzung folgt)

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